Am 1. Februar 1878 starb der ehemalige Schultheiß Johann Michael Schneider im Alter von 74 Jahren in Gailenkirchen. Aus insgesamt drei Ehen hatte er fünf überlebende Kinder. Seinen Lebensabend hatte der wohlhabende „Gutsbesitzer“ bei seiner Tochter Rosina Magdalena verbracht, die zusammen mit ihrem Ehemann Johann Georg Egner das Hofgut des Vaters übernommen hatte. Drei der vier anderen Geschwister waren in der Nähe des Geburtsorts geblieben. Catharina Barbara (*1833) hatte einen Landwirt in Oberrot geheiratet, während die jüngste Schwester Rosine Margarethe (*1853) als Frau eines Bauern in Hirschfelden lebte. Johann Georg (*1835) ehelichte eine Frau aus Goggenbach und übernahm (vermutlich) deren elterlichen Hof . Er musste diesen aber offenbar aufgeben, denn 1878 wird er als Taglöhner in Steinbach bezeichnet. Das dritte Kind Johann Michael Schneiders – das erste aus seiner 1846 geschlossenen zweiten Ehe mit Eva Catharina geb. Kern aus Eltershofen – schlug einen anderen Lebensweg ein.
Was Johann Adam bewog, kurz vor seinem 20.Geburtstag im Jahr 1868 in die USA auszuwandern, ist nicht bekannt. Als „Startkapital“ nahm er offenbar 311 Gulden „Muttergut“ mit (seine Mutter war bereits 1854 gestorben, der Vater hatte 1857 erneut geheiratet). Seine Heimat scheint er im Januar 1868 unter Verzicht auf sein württembergisches Staatsbürgerrecht verlassen zu haben. Er könnte identisch mit einem Adam Schneider sein, der am 18. Februar 1868 von dem von Liverpool kommenden Schiff „Peruvian“ aus in Portland (Maine) an Land ging. Sechs Jahre später war er verheiratet und betrieb offenbar eine Farm in Fairbury, einem etwa 170 km südöstlich von Chicago gelegenen Ort im US-Bundesstaat Illinois. Aus dieser Zeit bietet ein knapper Briefwechsel mit dem Vater einen Einblick in die Verhältnisse des Auswanderers. Offenbar hatte Johann Adam im Frühjahr oder Frühsommer 1873 wegen eines Ernteausfalls den Vater um Geld gebeten. Im Dezember dieses Jahres schickte dieser dann über den Schwäbisch Haller Auswanderungsagenten Gunzert 50 Gulden nach Amerika, was er durch einem sehr einsilbigen Brief ankündigte. In seiner Antwort zeigte Johann Adam seine Enttäuschung und Verbitterung sehr offen. Die 50 Gulden betrachtete er als Almosen – eine derartig kleine Summe könnte er sich auch in den USA borgen. Wie viele Auswanderer glaubte er, dass man ihn zugunsten der in der Heimat gebliebenen Geschwister übergehe. Es sei „ein schreiendes Unrecht“, attackierte er den Vater, „wen[n] man im Stande ist, dem einen Kinde 2500 Gulden u[nd] einen Wagen voll Aussteuer u[nd] dem anderen nur ein paar hundert Gulden“ zu geben. „Der da draußen im fremden Lande soll halt sehen, daß er durchkommt.“ Möglicherweise hatte man ihm von daheim aus vorgehalten, dass er eine Frau genommen habe, „wo nicht viel hat“. Damit passe sie aber zu ihm, denn er „habe auch nicht viel gekriecht“. „So lebe ich dennoch glücklich und vergnügt mir ihr!“
Als der Vater 1878 in Gailenkirchen starb, lebte Johann Adam Schneider offenbar noch in Fairbury, wo er im März 1878 eine Vollmacht erst für den Schwager Johann Georg Egner ausstellte und diese auf die Nachricht von dessen Tod hin im September auf den Schmied Georg Roll abänderte. Es dürfte wohl Ende 1878 gewesen sein, bis der ihm zustehende Anteil an der Erbschaft, der immerhin 1230,85 Mark ausmachte, über das Stuttgarter Bankhaus Stahl&Federer in die USA transferiert werden konnte.
Aufgrund des weit verbreiteten Namens ist es schwierig, Johann Adam Schneider eindeutig zu identifizieren und damit seinen weiteren Lebensweg in den USA nachzuvollziehen. Ein möglicher Kandidat wird in den Daten von US-Volkszählungen ab 1885 im Bundesstaat Nebraska erwähnt. Adam Schneider aus „Germany“, geboren im März 1848 und 1868 in die USA ausgewandert, lebte 1885 in Dry Creek, Sherman County und 1900 in Hazard im selben County. Um 1884 hat er seine – möglicherweise zweite – Ehefrau Bertha Lintner (?) geheiratet, eine 1862 geborene Östereicherin, die 1880 nach Amerika gekommen war. Neben den vier Kindern Ernest (*1884), William (*1886), Emma (*1896) und Joseph (*1899) wohnte auch die Mutter seiner Frau im Haus. Spätestens ab 1910 lebte die Familie, zu der noch die Tochter Louisa hinzugekommen war, in Beaver, Buffalo County, Nebraska. Hier werden Adam Schneider und seine Frau auch 1920 noch genannt. Ihr weiterer Verbleib ist derzeit nicht nachvollziehbar, ebenso wie nur vermutet werden kann, dass es sich hier um den Auswanderer aus Gailenkirchen handelt.
Dokument 1: Brief von Michael Schneider in Gailenkirchen an Johann Adam Schneider in Fairbury (Illinois) vom 29. Dezember 1873 und dessen Antwort vom 29. Januar 1874
Lieber Sohn
Wenn diß mein Schreiben dich u[nd] deine Frau gesund antrieft so wird es uns alle freuen, wir sind wirklich gottlob alle wirklich gesund und ich habe am 29. Dez[em]b[e]r durch Albrech[t] Gunsser [= Gunzert] in Hall dier 50 fl frei zu schicken lassen, wenn du diese fünfzig Gulden erhalten hast, so bitte ich unverzüglich, mich zu bescheinig[en].
Es grüßt Dich und die Ihrigen
Gailenkirchen den 29. Dez[em]b[e]r 1873
Mich. Schneider
Fairbury den 29. Januar 1874
Werthester Father!
Deine paar Zeilen erhielt ich am 17. Januar 1874, woraus ich sehe, daß ihr alle gottlob gesund seid, auch uns hat dein Brief gesund u[nd] wohl angetroffen, was wir überhaupt nöthig haben. – Wie du mir, lieber Vater, schreibst, daß du fünfzig Gulden geschickt hast, so habe ich sie noch nicht bekommen. Was ich auch nicht viel darum gebe, denn du darfst es mir sicher glauben, mein theuerster Vater, daß ich wegen bloß fünfzig Gulden nicht an dich um Geld schreiben werde. Den[n] so viel kann ich einige Zeit hier noch haben, und da brauche ich noch keine neun Monaten zu warten auf euren guten Willen, denn wan[n] ich eine Erndte gehabt hätte verfloßenes Jahr, so hätte ich gewiß in meinem zweiten Schreiben nicht mehr um Geld geschrieben u[nd] es wird auch mein letzter Brief gewesen sein, wo ich um Geld nochmals etwas erwähnen werde, den[n] ich erkenne, daß ihr wenig Einsicht von America haben [= habt].
Es ist ein schreiendes Unrecht vor meinen Augen, wen[n] man im Stande ist, dem einen Kinde 2500 Gulden u[nd] einen Wagen voll Aussteuer u[nd] dem anderen nur ein paar hundert Gulden geben will. Ja natürlich ist es denen daheim, denen muß man auf großen Plätzen verhalten, und der da draußen im fremden Lande soll halt sehen, daß er durchkommt. Ja, gottlob, wenn ich gesund bleibe u[nd] Glück habe, wird es mir gewiß nicht fehlen. Wenn ihr vielleicht wohl glauben [werdet], ich habe eine Frau genommen, wo nicht viel hat? So stehe ich ihr gerade gegenüber, ich habe auch nicht viel gekriecht [= bekommen]. So lebe ich dennoch glücklich und vergnügt mir ihr!
Doch dich, mein lieber Vater, nicht zu viel zu betrüben in deinen alten Tagen, muß ich mein Schreiben schließen mit vielen Grüßen von deinem threuesten Sohn im fernen Westen, und wünsche auf
Wiedersehen
Dein liebster Sohn
John Adam Schneider
Fairbury Livingston Co. Illinois USA
Text und Transkription: Daniel Stihler
Quellen:
* StadtA Schwäb. Hall 58/1221 (Hofverkauf an Magdalena Schneider u. Johann Egner, 1868)
* StadtA Schwäb. Hall 58/4866 (Realteilung des Michael Schneider, 1878)
* Passagierlisten der Atlantikhäfen, 1820-1873 und 1893-1959, abgerufen über Ancestry.com (15.01.2018)
* Föderale US-Volkszählung 1900, 1910, 1920, abgerufen über Ancestry.com (15.01.2018)
* Nebraska, State Census Collection, 1860-1885, abgerufen über Ancestry.com (15.01.2018)
Abbildung: Auszug aus dem Familienregister der Ev. Pfarrei Gailenkirchen mit Einträgen zu den Kindern von Johann Michael Schneider; hinter dem Eintrag zu Johann Adam Schneider (3.) steht: „1868 nach Amerika ausgewandert“
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