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IMMIGRATION / EMIGRATION -

ABENTEUER SEIT HUNDERTEN VON JAHREN

Rosalie und Lina Straub

um 1875 - Eltern in Amerika, Kinder in Deutschland

Kindersterblichkeit und Müttersterblichkeit sind ein ebenso bedrückendes wie typisches Phänomen der Frühen Neuzeit und auch noch für das 19. Jahrhundert charakteristisch. So brachte es der Salzsieder Johann Ludwig Wolfgang Reiz oder Reitz (1791-1852) auf drei Ehefrauen (darunter zwei Schwestern) und nicht weniger als 18 Kinder. Von diesen starben fünf als Säuglinge oder Kleinkinder, zwei weitere als junge, ledige Erwachsene. Von den verbliebenen elf Kindern wanderten nicht weniger als sechs nach Amerika aus.

Johann Gottlieb (*1820) ist das einzige von vier Kindern aus der ersten, 1816 geschlossenen Ehe des Vaters mit Rosina Catharina Groß (1826-1823), das den Vater überlebte. Der gelernte Häfner (Töpfer) verzichtete im Dezember 1847 auf sein württembergisches Bürgerrecht, um sich in Oppenheim im Großherzogtum Hessen niederzulassen. Dort heiratete er am 21. Dezember 1847. Kurz danach muss er jedoch nach Amerika gereist sein, denn laut der Realteilung (Nachlassteilung) des am 29. Juli 1852 gestorbenen Vaters hielt er sich zu diesem Zeitpunkt „in Amerika“ auf. Über sein weiteres Leben in den USA ist nichts weiter bekannt.

 

Unklar ist, ob er der erste Auswanderer war. Auch zwei Brüder aus der zweiten Ehe des Vaters mit Elisabetha Magdalena Groß (1787-1830), der älteren Schwester von Rosina Catharina, traten die Reise nach Amerika an. Georg Christoph (*1824) könnte mit „Christoph Reitz“ identisch sein, der bereits am 19. Oktober 1849 auf dem Schiff „Scotland“ in New York ankam. Jedenfalls lebte auch er 1852 in den USA, wo sich seine Spuren ebenfalls verlieren.

 

Sein jüngerer Bruder Georg Ludwig (*1826) hielt sich zu diesem Zeitpunkt als Drechslergeselle auf Wanderschaft in Eslohe im Sauerland auf, muss aber bald darauf ebenfalls die Reise über den Atlantik angetreten haben. 1855 heiratete er in Amerika die aus Sachsen stammende Wilhelmine Rechner (1833-1885).Später lebte Georg Ludwig Reiz mit seiner sieben Kinder umfassenden Familie in Marine, Madison County, Illinois, wo er 1893 starb. In der Nähe wohnte auch die jüngere, aber früher ausgewanderte Halbschwester Maria Elisabetha Hammer geb. Reiz (s. unten), die vielleicht Georg Ludwigs erste Anlaufstation in der „Neuen Welt“ gewesen ist.

 

Aus seiner dritten Ehe mit der 18 Jahre jüngeren Sophia Barbara Dötschmann (1809-1885) hatte Johann Ludwig Wolfgang Reiz weitere zehn Kinder, von denen sechs das Erwachsenenalter erreichten. Friedrich Joseph (*1835) wurde Büchsenmacher und blieb in Schwäbisch Hall. Magdalene Elisabethe (*1836) heiratete den Uhrmacher Karl Maier in Kirchberg, ihre jüngere Schwester Elisabeth Sophie Rosina (*1840) blieb als Ehefrau des Schneiders Johann Rück ebenfalls in Schwäbisch Hall. Elisabetha Sophia Friederika (*1843) ging 1865 eine Ehe mit dem aus Kirchberg stammenden Mechaniker Christian Gottlieb Frey ein, starb aber noch im selben Jahr nach einer Totgeburt.

 

Drei weitere Geschwister machten sich auf den Weg nach Amerika. Maria Elisabetha (*1833) muss spätestens Anfang 1851 dort angekommen sein, denn sie heiratete in St. Clair, Illinois, am 8. März 1851 – kurz vor ihrem 17. Geburtstag –den aus Mingolsheim im Großherzogtum Baden stammenden Karl Ludwig Hammer (1822-1892), mit dem sie mindestens sechs zwischen 1852 und 1863 geborene Kinder hatte. Später besaß das Ehepaar eine Farm in Highland, Madison County, Illinois. Maria Elisabetha starb bereits 1868 im Alter von nur 35 Jahren. Ihr Grab sowie das ihres 1893 gestorbenen Halbbruders Georg Ludwig Reiz befindet sich heute noch auf dem Friedhof von Highland, Illinois.

 

Der jüngste Bruder Christian Albrecht Reiz (*1849) könnte identisch mit „C A Reitz“ sein, der am 3. November 1867 mit dem aus Bremen kommenden Schiff „Herrmann“ in New York ankam. Er starb allerdings bereits drei Jahre später, am 15. Oktober 1869, in Vandalia, Fayette County, Illinois. Die Ursache für seinen frühen Tod ist nicht bekannt.
 

Eine ungewöhnliche Geschichte verbindet sich mit Rosalie Reiz (*1845), dem zweitjüngsten Kind von Johann Ludwig Wolfgang Reiz und seiner dritten Ehefrau Sophia Barbara. Sie wanderte 1867 nach Amerika aus und heiratete am 2. Juni dieses Jahres in Tippecanoe, Indiana, den aus Eberbach an der Fils stammenden Jakob Friedrich Straub (*1843). Mit ihrer Familie lebte sie anfangs wohl in der kalifornischen Metropole San Francisco (der Zensus von 1880 nennt die 8 Hayes Street im heutigen Stadtzentrum), später im nahe gelegenen San Leandro, Alameda County.
Wie ihre Enkelin Hedwig aufgeschrieben hat, kam Rosalie Straub um 1875 mit ihrer Familie zu Besuch in die Heimat. Die Mutter bzw. Großmutter lebte wie die beiden Geschwister Friedrich Joseph Reiz und Elisabetha Sophia Regine Rück in Schwäbisch Hall, die Schwester Magdalena Elisabetha Maier in Kirchberg. Da der Wintereinbruch schneller als erwartet kam und die raue See und die primitiven Schiffe eine unbequeme, sogar gefährliche Rückreise erwarten ließen, wurden die beiden Töchter Rosalie und Lina bei ihren Tanten in Deutschland gelassen, um sie später zurück zu holen. Da sich diese Rückkehrmöglichkeit um etliche Jahre verzögerte, kehrte nur noch eines der Mädchen nach Amerika zurück, das andere wuchs weiter bei der Tante in Kirchberg auf und blieb dauerhaft in Deutschland.
Diese erstaunlich anmutende Geschichte lässt sich anhand von im Haller Stadtarchiv erhaltenen Quellen teilweise verifizieren. In ihrem auf den 27. März 1883 datierten Testament legte die Mutter bzw. Großmutter Sofie Reiz geb. Truckenmüller fest, dass sie ihre in Amerika lebende Tochter Rosalie „in gutem Willen“ enterbe. Die beiden Enkelinnen Rosalie, geboren am 15. Februar 1874, und Lina, geboren am 18. Januar 1871, sollten den eigentlich ihrer Mutter zustehenden Pflichtteil von jeweils 685 Mark erhalten. Erstere lebe „zur Zeit bei Schneidermeister Rück in Hall“, zweitere „bei Carl Maier, Uhrmacher in Kirchberg a./J.“ Die Enterbung in gutem Willen war eine damals übliche Vorgehensweise, wenn die eigentlich erbberechtigte Person verschuldet war oder sich in sonstigen finanziellen Nöten befand. In diesem Fall dürfte es wohl eher darum gegangen zu sein, die Versorgung der beiden in Deutschland gebliebenen Enkelinnen in einer rechtlich verbindlichen Weise sicher zu stellen. Die beiden Söhne Charles (* ca. 1870) und Fred  (* ca. 1873) blieben bei den Eltern (bzw. reisten mit diesen zurück) und werden im US-Zensus von 1880 erwähnt. Vielleicht halfen sie trotz ihrer Jugend dem Vater bei seinem Handwerk.
Dass man Kinder bei nahen Verwandten aufwachsen ließ, mutet heute befremdlich an, ist aber bis in das 20. Jahrhundert hinein immer wieder anzutreffen. Oft spielten wirtschaftliche Gründe eine Rolle, in anderen Fällen z.B. Kinderlosigkeit der aufnehmenden Familie. Ungewöhnlich ist lediglich, dass dies über den Atlantik hinweg geschah. Zu der in Kirchberg lebenden Schwester Magdalena Elisabetha und ihren Ehemann Carl Johann Friedrich Maier waren keine Quellen aufzufinden, die Hinweise auf ihre finanzielle Situation geben könnten. Für das Ehepaar Rück in Schwäbisch Hall hingegen lässt sich zumindest für einen späteren Zeitpunkt feststellen, dass es durchaus wohlhabend war. Nach dem Tod Rosine Rücks im Jahr 1906 wurde ein Vermögen von 10.000 Mark erwähnt, das auf die beiden in Berlin lebenden Kinder Georg und Mathilde aufgeteilt wurde. Rosalie Straub dürfte der Abschied von ihren Kinder auch deshalb leichter gefallen sein, weil es noch ihre Mutter als weiteren Rückhalt gab. Sofie Reiz war wohlhabend genug, um ihren Enkelinnen auch finanziell unter die Arme zu greifen; in ihrer Realteilung wird ihr Vermögen auf 3.143 Mark beziffert.
Der nach dem Tod der am 2. Juni 1885 verstorbenen Sofie Reiz angefertigte Schriftsatz zu dieser Realteilung liefert weitere Hinweise. Die 1871 geborene Lina wäre „von den Eltern aus Anlaß eines Besuchs in Deutschland zurückgelassen [worden] bei Karl Maier in Kirchberg.“ Sie sollte die im Testament genannten 685 Mark, weitere 385,71 Mark sowie ein „vollständiges Bett mit zwei Überzügen“ erhalten. Die jüngere, 1874 in Amerika geborene Schwester Rosalie hingegen sei am 21. August 1884 „wieder dahin zu ihren Eltern gereist.“ Sie ging bei der Erbschaft leer aus, „weil sie bei ihrer Reise nach Amerika 175 fl Reisegeld erhalten habe und sie nun von den Eltern in Amerika versorgt wird.“ Leider gibt es nur diese wenigen Hinweise auf die Angelegenheit; genaueres ließe sich nur aus den privaten Korrespondenzen erfahren, die sich aber leider nicht erhalten haben. Lina Straubs Tochter Hedwig berichtet in ihren Jugenderinnerungen, die Mutter habe nach einigen Jahren in Deutschland kaum noch Erinnerungen an ihre Familie in Amerika gehabt und hatte die englische Sprache weitgehend verlernt. Da die Tante Magdalena Elisabetha Maier in Kirchberg nur zwei Söhne hatte, wollte sie das Mädchen gerne bei sich behalten, wozu die Eltern in Amerika dann auch ihre Einwilligung gaben.

Lina Straub heiratete am 30. November 1897 in Kirchberg an der Jagst den Amtmann Paul Hermann Knabe, Sohn eines Architekten in Leipzig, der nach dem frühen Tod seiner Eltern bei Verwandten in Gaildorf aufgewachsen war. Paul Hermann Knabe wurde später Schultheiß in Mittelfischach bei Obersontheim. 1920 zog die Familie nach Gaildorf, wo Knabe die Stelle des Sparkassen-Rechners antrat. Das Paar hatte fünf Kinder, vier Söhne und die Tochter Hedwig, die später die bemerkenswerte Lebensgeschichte ihrer Mutter aufgeschrieben hat. Lina Straub hat ihre Eltern nie wieder gesehen. Nach dem Tod ihrer 1911 in Amerika gestorbenen Mutter erzählte sie ihrer Tochter Hedwig, wie weh es ihr tue, dass sie ihre Mutter eigentlich nicht gekannt habe. Lina Knabe geb. Straub starb 1921 im Alter von nur 50 Jahren an einer durch einen Hundebiss ausgelösten Sepsis.

Ihre Eltern Rosalie und Friedrich Straub lebten spätestens ab den 1900er Jahren in San Leandro, Alameda County. Zu den vier bereits erwähnten Kindern kamen noch zwei Nachzügler, der 1886 geborene Sohn Ernest und die Tochter Emelia, deren Geburtsdatum nicht festzustellen war. Friedrich starb 1907, Rosalie 1911. Ihr kurz vor dem Tod verfasstes Testament lässt erkennen, dass sie über einen gewissen Wohlstand verfügte. Das gesamte Inventar einschließlich Schmuck erhielt ihr Sohn Ernest, bei dem sie zuletzt gelebt hatte, 500 Dollar gingen an Lina in Deutschland (die damit ein Klavier kaufte), weitere 500 Dollar an Rosalie („Rosie“), mittlerweile verheiratete Sears in Redwood City, San Mateo County, Kalifornien. Die restlichen Besitzungen Rosalie Straubs sollten gleichmäßig an ihre Kinder Charles Straub, Frederick Straub, Emelia Viette und Ernest L. Straub verteilt werden.
Zum weiteren Leben der aus Schwäbisch Hall  nach Amerika zurückgekehrten Rosalie Straub sind bisher nur bruchstückhafte Informationen bekannt, die auf einen deutlich unkonventionelleren Lebenslauf als den ihrer Schwester deuten. Sie ist sehr wahrscheinlich identisch mit der in einem Wählerverzeichnis von 1910-1912 für Redwood City erwähnten Rose Madeline Sears, Ehefrau des „Innkeepers“ und „Liquor Dealers“ Horace Stillman Sears, der sich – eher untypisch für einen Amerikaner – als „Sozialist“ bezeichnete. Aus den Zensusdaten für 1900 und 1910 und weiteren Quellen lässt sich ablesen, dass Rosie aus einer ersten, vor 1900 geschiedenen Ehe eine 1894 in Marshall, West Virginia geborene Tochter namens Grace Barger und den 1901 im Alter von fünf Jahren in Redwood City gestorbenen Sohn Walter Barger hatte. Weitere Kinder scheint sie nicht bekommen zu haben; zusammen mit ihrem zweiten Ehemann betrieb sie 1910 in Redwood City einen „Saloon“.  Weitere Lebensdaten fehlen noch.

Text: Elke Focht, Daniel Stihler

Quellen:
- StadtA Schwäb. Hall 18/0371 (Realteilung des Johann Ludwig Reitz, Salzsieder, 1852)
- StadtA Schwäb. Hall 18/6020 (Realteilung der Sofie Reitz geb. Druckenmüller, 1885)
- StadtA Schwäb. Hall 18/10627 (Nachlassakten der Rosine Rück geb, Reiz, 1906)
- Landeskirchl. Archiv Stgt. MF KB 1392, Bd. 61 (Familienregister 1808ff, Bd. III [Buchst. L-R]), Bl. R 109
- ancestry.com: Illinois, USA, Testamente und Nachlassaufzeichnungen, 1772-1999 [database on-line]
- ancestry.com: Indiana, USA, ausgewählter Heiratsindex, 1748-1993 [database online]
- ancestry.com: Kalifornien, USA, Sterbeindex, 1905–1939 [database online]
- ancestry.com: Kalifornien, USA, Testamente und Nachlassaufzeichnungen, 1850-1953 [database online]
- ancestry.com: Kalifornien, USA, Wählerregistrierungen, 1900-1968 [database online]
- ancestry.com: New York, USA, Listen ankommender Passagier und Besatzungen (einschließlich Castle Garden und Ellis Island), 1820-1957 [database on-line]
- ancestry.com: Sammlung Deutschland, Heiraten, 1558-1929 [database online]
- ancestry.com: Sammlung US-Volkszählung 1880-1910 [database online]
- findagrave.com: George Ludwig Reitz
- private Unterlagen aus Familienbesitz


Abbildung:
Lina Knabe geb. Straub um 1920 (Foto aus Privatbesitz)
 

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