Migrationsdatenbank Schwäbisch Hall - Geschichten
Startseite | Info | Geschichten | Kontakt

IMMIGRATION / EMIGRATION -

ABENTEUER SEIT HUNDERTEN VON JAHREN

Professor Dr. Friedrich Reichert

1904 - ein Haller wird "Vater des argentinischen Alpinismus"

Der am 3. November 1878 in Schwäbisch Hall geborene Friedrich Reichert war das einzige überlebende Kind des Kaufmanns Julius Viktor Reichert (1847-1895) und seiner Frau Margarethe geb. Mergenthaler (1854-1895). Eine zwei Jahre jüngere Schwester starb 1880 als Säugling. Friedrichs Vater, der Sohn eines Präzeptors an der Lateinschule, war 1866 in die USA ausgewandert und hatte sich dort sieben Jahre aufgehalten. Julius Reichert hat in dieser Zeit, so erinnerte sich der Sohn, „ziemlich alle Gebiete der Union durchzogen ... Noch heute erinnere ich mich der seligen Zeit, da ... er mir von seinen Wildwesterlebnissen erzählte, die sich in Kansas, Texas oder im Indianerterritorium abspielten, und denen ich gespannt und andächtig lauschte.“ Nach seiner Rückkehr hatte er geheiratet und betrieb eine Seifensiederei und Kerzenzieherei in der Neuen Straße (heute Neue Straße 13), der eine Kolonial- und Spezereiwarenhandlung angeschlossen war. Friedrich Reichert wechselte von der Volksschule auf das Gymnasium, dessen Lehrpersonal er in einen Erinnerungen humorvoll geschildert hat. Da er aber „zu den miserabelsten Übersetzern“ der Schule gehörte und weder „Hosenspannen“ durch den Vater noch Nachhilfeunterricht eine Besserung erreichten, durfte Friedrich schließlich auf die Realanstalt wechseln. Er entwickelte ein lebhaftes Interesse an den Naturwissenschaften, insbesondere Geologie, Paläontologie und Chemie. Nachdem sein Vater das Geschäft in der Neuen Straße verkauft hatte und die Familie in die Haalstraße (heute Haalstraße 7) gezogen war, „richtete ich mir dort ein kleine Laboratorium, eine Art Faustkabinett ein, wo emsig experimentiert wurde und ich durch Knall- und Lichtphänomene die Neugierde der Schulkameraden und anderer Zuschauer reizte.“ Im Juni und Dezember 1895 starben kurz hintereinander erst der Vater, dann die Mutter.

 

Friedrich Reichert verließ nun seine Heimatstadt und besuchte die technischen Staatslehranstalten in Chemnitz (Vorläufer der heutigen Technischen Universität). Von dort aus unternahm er erste Touren in den Alpen und erste Versuche im Bergsteigen. 1898 wechselte er nach Straßburg, um hier seinen Wehrdienst als „Einjährig-Freiwilliger“ zu absolvieren und Chemie zu studieren. Außerdem unternahm er weitere Bergwander-, Kletter- und Skitouren in den Vogesen, im Schwarzwald und in den Alpen. 1902 z.B. bestieg er den Mont Blanc, den höchsten Berg der Alpen. Das Studium schloss er im selben Jahr mit der Promotion ab. Im Sommer 1903 nahm er an einer durch Willi Rickmer Rickmers (1873-1965) geleiteten Expedition in den Kaukasus teil und war u.a. am 26. Juli 1903 an der bergsteigerisch anspruchsvollen Erstbesteigung des Uschba-Südgipfels (4.698 m) im heutigen Georgien beteiligt.

1904 heiratete Friedrich Reichert Anna Bade aus Hannover und reiste mit ihr nach Argentinien. Ein von der dortigen Regierung beauftragter deutscher Geologe hatte ihn angeworben, um Rohstoffe zu suchen, zu untersuchen und Hinweise auf deren industrielle Ausbeutung zu geben. In dieser Funktion unternahm er 1904/05 Expeditionen in die Atacama-Wüste; auch gelang ihm die Erstbesteigung des an der Grenze zu Chile gelegenen Vulkanbergs Cerro Socompa (6.051 m). 1906 verlieh ihm die argentinische Regierung eine Professur für analytische und Agrikulturchemie am neu gegründeten Institut für Agronomie und Veterinärwesen der Universität von Buenos Aires. Zu dessen Anfängen mit vielen ausländischen Dozenten und in bescheidenen Unterkünften hat Reichert eine lebhafte Schilderung hinterlassen. Die vorlesungsfreie Zeit im Sommer nutzte er in den folgenden Jahrzehnten regelmäßig für Expeditionen, vor allem in die Anden. Ausgangspunkt für viele Reisen war eine 1910 von Reichert bei Cayutué am lago Todos los Santos in Südchile erworbene „Finca“, die er „Eden-Hall“ nannte. 1907 erreichte er mit seinem Schwager Fritz Bade nach zwei vergeblichen Anläufen den Gipfel des Aconcagua (6.961 m), des höchsten Bergs in Amerika. 1910 gelang ihm zusammen mit dem Schweizer Robert Helbling und Fritz Bade die Erstbesteigung des Nevado de Plomo (6.050 m), 1911 folgte der Nevado de Juncal (5.953 m). Ab 1913/14 wurden für viele Jahre die von großen Gletschern geprägten Gebiete des argentinischen Teils von Patagonien zu einem Schwerpunkt der Forschungsreisen. Seine letzten größeren Unternehmungen waren 1942 die Besteigung des Tronador (3.470 m) mit zwei Nichten und die Beteiligung an einer etwa 6.000 km langen Forschungsreise durch die argentinischen Provinzen Salta, Tucumán, Córdoba und Santa Fe. 1946 publizierte Friedrich Reichert in zwei Bänden seine Lebenserinnerungen „Auf Berges- und Lebenshöhe“, in der er humorvoll seine Jugend in Schwäbisch Hall und die Studienzeiten in Chemnitz und Straßburg schildert, vor allem aber ausführlich von seinen Expeditionen und Bergtouren berichtet. Auch in seinen späteren Lebensjahren pflegte er die Kontakte zu seinen Haller Verwandten und korrespondierte mit dem Haller Stadtarchivar Wilhelm Hommel. Friedrich Reichert starb am 2. Juni 1953 im Alter von 74 Jahren in „Eden-Hall“ nach einem Bootsunfall auf dem lago Todos los Santos. Er wurde zwar lebend aus dem kalten Wasser gerettet, starb aber an den Folgen der dabei erlittenen Unterkühlung. 

 

Friedrich Reichert gilt als „Vater des argentinischen Alpinismus“. Zu seinen Ehren erhielten sowohl ein Nebengipfel des Tronador als auch ein Gipfel des in der Nähe des Aconcagua gelegenen „cordón de los Penitentes“ den Namen „Col Reichert“. An den Alpinisten aus Schwäbisch Hall erinnern außerdem die „Reichert-Verwerfung“ des Perito Moreno-Gletschers in Patagonien sowie das von den Gipfeln der Chañi-Gruppe in Nordwestargentinien gebildete „Reichert-Amphitheater“.

Text: Daniel Stihler

Quellen:

- Landeskirchl. Archiv Stgt. MF KB 1394 Bd. 73 (Familienregister St. Michael 1873-1886, Bd. II), Bl. 332 (Julius Viktor Reichert)
- Friedrich Reichert: Auf Berges- und Lebenshöhe. Erinnerungen, 2 Bde., Buenos Aires 1946
- Daniel Hirsch, Santiago Storni, Laura Busto u.a.: Federico Reichert. Padre del andinismo argentino, Buenos Aires 2010

Abbildung:

Der 6.050 m hohe „Nevado de Plomo“, dessen Erstbesteigung Friedrich Reichert zusammen mit zwei anderen Bergsteigern im Jahr 1910 gelang. Foto von Friedrich Reichert aus: ders.: Auf Berges- und Lebenshöhe. Erinnerungen, Bd. 1, Buenos Aires 1946, nach S. 264
 

Rosalie und Lina Straub

um 1875 - Eltern in Amerika, Kinder in Deutschland

Bis in das frühe 20.Jahrhundert hinein war es durchaus üblich, Kinder bei nahen Verwandten aufwachsen zu lassen. Ungewöhnlich war es aber, wenn dies über den Atlantik hinweg geschah. mehr lesen

Margaretha und Friedrich Carl Deininger

1872 - Auswanderung wegen einer verbotenen Liebschaft

Der Reise nach Amerika ermöglichte es einem verheirateten Mann vom Rötenhof bei Bibersfeld, ein gemeinsames Leben mit einer Verwandten zu beginnen. mehr lesen

noch mehr Geschichten - Ereignisse - Schicksale lesen sie hier