Friedrich und Christian Bauer waren Halbbrüder der am 5. August 1814 in Markgröningen geborenen Christine Schmid, einer unehelichen Tochter der Anna Schmid aus Hemmingen. Christine hatte 1864 den Gefängnisaufseher Carl Tureck geheiratet, der eine Stelle am Schwäbisch Haller Landesgefängnis hatte. Tureck selbst starb 1879, seine Witwe am 6. November 1882. Kinder hatte das Paar nicht. In ihrem Testament hatte Christine Tureck unter anderem Legate an ihre Halbgeschwister aus der 1819 geschlossenen Ehe ihrer Mutter mit dem Markgröninger Bauern Johannes Bäuerle festgelegt. Ihre Mutter hatte in ihrer Ehe insgesamt acht weitere Kinder bekommen, von denen aber nur vier das Erwachsenenalter erreicht hatten. Zu ihnen gehörten die beiden in die USA ausgewanderten Halbbrüder Friedrich (geb. 3. Januar 1826 in Markgröningen) und Christian (geb. 2. Februar 1829 in Markgröningen). Friedrich war 1847 nach Amerika gereist und hatte sich in Philadelphia (Pennsylvania) niedergelassen, Christian war ihm etwa 1852 gefolgt.
Da die beiden 1882 als "längst verschollen" galten, wurde ein dreißig Jahre früher von Friedrich Bäuerle aus Philadelphia geschriebener Brief den amtlichen Unterlagen als Nachweis für seinen Verbleib beigelegt. Auf diese zufällige Weise hat sich ein interessantes Dokument aus den 1850er Jahren erhalten, das die Perspektivlosigkeit vieler junger Menschen in Deutschland und damit die Gründe für die beginnende Massenemigration nach Amerika deutlich beim Namen nennt. Außerdem liegt hier ein charakteristisches Beispiel dafür vor, dass man die Auswanderung manchmal auch als letzte Chance für „schwarzes Schafe“ betrachtete. Die wiederholten Andeutungen im Brief verweisen darauf, dass der jüngere Bruder Christian wegen einer nicht näher benannten Straftat – laut Friedrich ein „dummer Streich“ – im Gefängnis saß. Aus Friedrichs Sicht konnte er mit dieser Vergangenheit nicht mehr darauf hoffen, eine dauerhafte Stelle in seiner Heimat zu erhalten, deshalb sollte er zu ihm in die USA kommen. Dass die 70 Gulden, die er zu diesem Zweck nach Deutschland geschickt hatte, von dem Bruder Johannes, einem Weingärtner in Markgröningen, einbehalten wurden, veranlassten Friedrich zu der ärgerlichen Bemerkung, „ich glaube die Leute meinen man habe hier das Geld im Überfluß“.Iin Wirklichkeit müsse er sehr hart arbeiten, um überleben zu können.
Tatsächlich wanderte Christian Bäuerle nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis vermutlich noch 1852 in die USA aus, aber über das weitere Schicksal der Brüder ist nur noch wenig bekannt. Friedrich Bäuerle soll um 1865 mit Hinterlassung einer Witwe und von Kindern verstorben sein, allerdings gab es keinen Totenschein, und die Adresse der Witwe war längst verloren. Von Christian Bäuerle hingegen „sei ein Aufenthaltsort überhaupt nicht bekannt geworden.“ Natürlich kann dieses Unwissen auch damit zusammenhängen, dass die Erben in Deutschland kein großes Interesse daran hatten, zwei weitere Miterben zu finden, die ihren Anteil deutlich schmälern würden...
Philadelphia den April 1852
Liebe Schwester
Den Brief habe ich erhalten aber leider ich habe kein großes Vergnügen gehabt die traurige Botschaft zu erfahren die bey euch vorgefallen ist. Lange freude ich mich auf die Ankunft des Christian durch welches mir im Augenblick ein Strich ging. Mein Beruf ist immer noch in Philad[elphia] auf dem Plaz wo ich nächst 2 ½ Jahr bin.
Du schreibst mir daß der Chr[istian] immer eine Sehnsucht habe nach Amerika das glaub ich wohl denn für die Jugend ist Deutschland wirklich ein Untergang und ich sage dir, daß ich auch nicht so sparsam geblieben wär, wenn du Liebe mir nicht aus dem Elende geholfen hättest, du kannst dir nicht vorstellen wie mir öfter zu Muthe war hat man einen Plaz so verdient man nichts man kann sich ja bereits nicht einmal eine ordentlich Kleidung anschaffen; daß er den dummen Streich gemacht hat, das bedaure ich sehr und daß er euch im Augenblick in ein großes Elend gesezt hat, das kann ich mir wohl vorstellen, doch müßt ihr ihm jetzt verzeihen. Wenn er bis Juni frey wird so sey so gut und mache so geschwind als möglich daß er Europa verlassen kann denn draußen wird er nicht mehr eine bleibende Stelle haben er wird überall dafür angesehen, ich will für ihn sorgen so gut ich kann und mit dem Reisegeld darfst du ohne Sorge sein das wird dir [zurückgegeben], wenn er hier sparsam ist kann er sein Auskommen finden wie jeder.
Daß der Johannes die 70 f [= Gulden] behalten hat hatte mich im Augenblick sehr empört indem ich dem Chr[istian] aus der Noth helfen wollte, ich glaube die Leute meinen man habe hier das Geld im Überfluß ich muß dir gestehen ich habe draußen nicht so hart gearbeitet wie hier es kostet mich manchen Schweißtropfen bis ich etwas erspart habe doch weiß ich für was ich schaffe.
Die Armuth in Deutschland weiß ich wohl es war diesen Winter hier auch alles sehr theuer, so daß viele Leute auch kaum ihr leben davon schlugen [= trugen?].
Wenn der Chr[istian] frey ist so sey so gut und bemühe dich darum daß er vom Militärleben erlößt wird das Auswandern macht gar viel aus denn er würde noch viel leichtsinniger wenn er wieder sozusagen in der Gefangenschaft wäre.
Daß du immer zu leiden hast bedaure ich sehr Gesundheit geht doch über alles ich kann Gott sei Dank sagen es hat mir noch nicht viel gefehlt solange ich hier bin. Ich glaube die Katherine muß das mehrste durchmachen ich fühle mich nur froh daß sie eine gute Pflege hat denn wenn sie in Markg[röningen] wäre, so wärre sie schon längst begraben, doch mein Motto ist immer wohl dem der stirbt. Ich will mich jetzt nicht mehr lange verweilen mit schreiben es ist heute das H[eilige] Osterfest wenn der Chr[istian] er ist will ich mein Herz und Gedanken besser zusammen nehmen jetzt sind sie zerstreut
Grüße mir alle Geschwister Vater und Bekannte recht herzlich
Herzlich grüßt dich dein in der Ferne lebender Bruder
Friedrich
Meine Adresse ist
F. Bäuerle
bey Mis Johilt
Nord front Staußen
zwischen Green und Kurzen
391
Philadelphia
Schreibe mir gleich wieder wenn er kommt
Quellen: StadtA Schwäb. Hall 18/5516
Abbildung: Ansicht von Philadelphia um 1850, Farblithografie, The Library Company of Philadelphia
Text und Transkription: Margret Birk, Daniel Stihler
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